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AutorenbildJens Krohmer

Neurobiologie bei ADHS


Unkonzentriert, ein Verhalten, das nicht situationsangemessen ist, eine krakelige Handschrift, motorisch unruhig, nicht ausdauernd, frech, verletzend (auch körperlich), laut, sucht- und suizidgefährdet… Es gibt viele Symptome und Verhaltensweisen, die durch ADHS bedingt sind.

In den letzten Jahrzehnten hat man immer mehr entdeckt, dass dies durch neurologische Auffälligkeiten bedingt ist. Kein ADHS-Kind steht morgens auf und hat den festen Entschluss, jemanden ärgern zu wollen (Cordula Neuhaus).

ADHS ist die Beschreibung eines komplexen chronischen Störungsbildes. Zentrale Regulierungsprozesse des Gehirns sind verändert. Wichtig: ADHS besitzt eine genetische Disposition und wird nicht durch Umweltfaktoren, einer mangelhaften Erziehung oder bestimmten Nahrungsmitteln erworben. Wenn ein Kind diagnostiziert ist, ist also meistens auch mindestens ein Elternteil betroffen.


 

Was ist nun anders bei einem „ADHS-Gehirn“? 

1.     Der Arbeitsspeicher – zu klein

Nehmen wir an, Sie lernen eine Person auf einem Fest kennen. Sie stellt sich mit Namen vor. Diese Information wird in das vordere Aufmerksamkeitssystem Ihres Gehirns geleitet. Dieser Bereich ist mit dem Arbeitsspeicher eines Computers zu vergleichen und bei jedem Menschen, ob mit oder ohne ADHS, begrenzt. Dadurch, dass bei ADHSlern in diesem Teil des Gehirns weniger Blut und Glucose angefordert wird, ist der Arbeitsspeicher aber bei ihnen jedoch noch kleiner. Tatsächlich hat man eine Volumenminderung des Frontallappens im Kernspintomographen von ca. 10% festgestelt. Im Frontalhirn laufen ständig Prozesse ab. Gedanken werden auseinandergenommen und wieder zusammengebaut (ein Bereich der „exekutiven Funktion“). Diese Fähigkeit wird unter anderem bei komplexen Rechenaufgaben im Kopf verlangt. Das ist für ADHSler mehr als mühsam – nicht aus Faulheit oder Dummheit, sondern neurobiologisch bedingt.

 

2.     Ein Zuviel von Aufmerksamkeit

Das Dopaminsystem, das für einen gleichbleibend zufriedenen Wachzustand zuständig ist, ist dysreguliert. Damit sind bestimmte Funktionen eingeschränkt: ADHSlern fällt es schwer, Informationen rasch und sinnerfassend aufzunehmen, Informationen zu filtern ("Reizfilterschwäche“), sich zu konzentrieren – und abzuspeichern.

Es kann also sein, dass der Name des neuen Bekannten auf dem Fest sofort aus dem Gedächtnis „herausrutscht“.

ADHSler haben nicht zu wenig Aufmerksamkeit, sondern eher zu viel. Sie können die Informationen nur nicht so gut filtern, sortieren und zwischen Wichtig und Unwichtig unterscheiden. ADHSler schauen im Unterricht aus dem Fenster, weil das Eichhörnchen im Baum gegenüber mindestens so wichtig ist wie der Satz des Pythagoras (und subjektiv interessanter).


3.     Der Mandelkern und die Festplatte

Jedes Gehirn, ob mit oder ohne ADHS, behandelt Informationen zudem nicht als reine Daten und Fakten. Es verbindet sie mit Emotionen.

Zuständig dafür ist unter anderem der Mandelkern. Er bewertet jede Sinneswahrnehmung positiv – oder negativ.

Mag man etwas sehr gerne, wird die Information in das hintere Teil des Aufmerksamkeitssystems weitergeleitet. In Computersprache entspricht dieses System der Festplatte. Hier befindet sich das Erfahrungswissen. Bewertet der Mandelkern jedoch die Information als negativ, hat der Betroffene keinen Zugang zum hinteren Aufmerksamkeitssystem. Es ist ausgeschaltet.


4.     Der Hypocampus – zu groß

Der Hypocampus (Altspeicherkoordinator) transportiert die Informationen in bestimmte Netzwerke des Gehirns, wo sie als Erinnerung abgelegt und später wieder aufgerufen werden können. Der Hypocampus hat auf Grund der Reizfilterschwäche bei den Betroffenen viel zu tun und ist nachweislich größer/dicker als bei Nichtbetroffenen.


5.     Starke Bilder werden „hervorragend“ abgespeichert

Besonders gut ausgebildet ist der „primäre visuelle Cortex“. Hier hebt man seine „Bilder“ auf. ADHSler reagieren stark auf Bilder. Bilder können „triggern“. Emotional aufgeladene Bilder können stark belasten, gegebenenfalls sogartraumatisieren.       


6.     Ausrutschen auf dem Gefühl

Bei ADHS ist die innere Bremse für das Gefühl (Cingulum) ausgeschaltet. ADHSler steigern sich ganz leicht in ein Gefühl hinein – und können das nicht kontrollieren. Erfahren sie Kritik, kann es sie völlig herunterziehen oder zu einem starken Wutausbruch führen. Auf dem Höhepunkt ist er/sie für andere nicht erreichbar – und der Betroffene kann seine Emotion nicht regulieren. Es ist tatsächlich nicht möglich, ihn/sie jetzt zu beschwichtigen! Die emotionale Impulsivität ist die Hauptbeeinträchtigung junger Erwachsener mit ADHS (Barkley, RA, Fischer, M 2010).


7.     Die Sauklaue

Der so genannte Gyrus Präcentralis ist zu gut durchblutet. Die Feinmotorik ist nicht richtig reguliert. Dadurch fällt bei vielen Betroffenen eine graphomotorische Schwäche auf. Bei Unlust ist sie besonders ausgeprägt. Schönschreiben ist für viele ADHSler eine Qual (es sei denn, sie sind von etwas fasziniert, dann ist ihre Schrift durchaus lesbar).


8.     Eingebaute Schusseligkei

Der obere Teil des Kleinhirns ist zu klein. Der ist für die Hand-Auge Koordination zuständig. Deswegen fällt so vielen ADHSlern ständig das Mäppchen vom Tisch, sie stolpern beim die Treppe Heraufsteigen, bleiben mit dem Ärmel an Türgriffen hängen…


9.     Die Schwierigkeit mit der Pünktlichkeit und das schlechte Gewissen

Die neurologischen Auffälligkeiten zusammengenommen bewirken, dass Selbstregulation und Selbstkontrolle erschwert sind (Steinhausen, Zürich). ADHSlern ist es nur schwer möglich, aus Erfahrung zu lernen und Ereignisse vorauszusehen. Im Nachhinein sind sie erschrocken, was sie „angestellt“ haben. ADHS bedeutet, im „Hier und Jetzt“ zu leben – und damit ständig in der Krise“ (Cordula Neuhaus).

ADHSler haben außerdem kaum ein Empfinden für Zeitdauer und Zeitverlauf. Komplexe Planungen wie Urlaubsvorbereitung oder Lernen auf eine Prüfung gehen nur auf den letzten Drücker – und auch das nicht immer mit zufriedenstellendem Ergebnis (s. exekutive Funktionen“).


10.   Viele Regelprozesse sind verändert

Schlaf-Wach-Regulierung, Thermoregulierung, Hunger-Durst-Bedürfnis, Nähe-Distanz-Regulierung, Schmerzempfindung, Herz-Kreislaufsystem (Steinhausen, Zürich) ...  Viele ADHSler haben Ein- oder Durchschlafprobleme – und morgens Mühe, aus dem Bett zu kommen. Übermäßiges Frieren und Schwitzen kommen genauso vor wie zu viel Hunger- oder gar kein Hungergefühl. Es gibt ADHSler, die keinerlei Schmerzgefühl, auch bei schweren Stürzen, empfinden, und ADHSler, die ein übersteigertes Schmerzempfinden haben. Genauso können auch Schmerzmittel, Koffein, Antidepressiva völlig anders wirken als bei Nichtbetroffen. Es gibt etliche ADHSler, die durch Kaffee müde werden und bei denen eine normale Narkosedosis überhaupt keine Wirkung entfaltet.


11.   Die Reife lässt auf sich warten

Die meisten ADHSler sind in ihrer geistigen Entwicklung verzögert. Sie können körperlich entwickelt sein, aber das kann trügen. Die psychische Pubertät setzt später ein.


12.   Duracell-Häschen

Hyperaktivität ist eine der bekanntesten Auffälligkeiten. Hintergrund ist vermutlich ein generelles vermindertes Aufmerksamkeitspotenzial. ADHSler brauchen bei subjektiv uninteressanten oder unangenehmen Aufgaben/Situationen stärkere Reize als Nichtbetroffene. Sonst droht Langeweile. Um diese zu kompensieren, coachen sich viele ADHSler durch Bewegung. Zusammen mit dem Nicht Stoppen Können ist das nicht immer sozial verträglich. Achtung: ADHSler ohne die hyperaktive Variante verlegen diese nach innen. Das sind die so genannten „Träumerchen“.


Foto:pixabay DecorativeWorld Jens Krohmer 04/24

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