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AutorenbildJens Krohmer

ADHS - eine Modediagnose?



Wird ADHS nicht zu häufig diagnostiziert? Ist es nicht eher eine „Modediagnose“?

Es scheint eine einfache Frage zu sein. Aber die hat es in sich.Weil sie nicht ganz so einfach zu beantworten ist.Und weil sie mit einem „Kampfbegriff“ arbeitet. Der Begriff „Modediagnose“ beinhaltet von vornherein eine Wertung.

 

Wenn es eine Mode ist, dann könnten viele Diagnosen schlichtweg falsch sein. Im Extremfall steht der Vorwurf im Raum, es gäbe gar kein ADHS. ADHS sei eine Erfindung [1].

Um die Frage redlich zu beantworten, sind diese Vorwürfe ernst zu nehmen.

 

Was sind Argumente?

Es könnten Interessen im Hintergrund stehen, die Diagnose ADHS zu schnell zu stellen.

- Zum Beispiel, weil es bequem sein könnte, der Person den Stempel ADHS aufzudrücken. Dann müsste weder sie noch ihr Umfeld groß etwas ändern. Beide Seiten könnten ja irgendwie nichts dafür, dass es ist wie es ist.Am Beispiel von Schulkindern: Das merkwürdige Verhalten von Schülerinnen und Schülern hänge nicht vom Unterrichtstil der Lehrperson ab. Schuld sei das Kind mit seinem ADHS – oder die Umweltbedingungen, die Kinderfeindlich seien. Oder wie der Psychologie Peter Schneider formuliert: «ADHS ist auch ein ‹konstruiertes› Problem der Schule» [2]

- Oder das finanzielle Argument: Diagnostizierte haben Anspruch auf bestimmte Medikamente, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Je mehr Diagnostizierte (am besten weltweit) es gibt, desto mehr könnte die Pharmaindustrie finanziell profitieren. Durch geschickte Lobbyarbeit beeinflusse diese das Gesundheitsamt inklusive Forschern und diagnostizierender Ärzte. ADHS sei ein Milliardengeschäft.

 

Was stimmt an diesen Vorwürfen?

1.     Auffällig ist in der Tat der starke Anstieg der Verschreibung von Medikamenten, die bei ADHS verschrieben werden können. Laut Statista stieg die Anzahl der Verordnungen von Methylphenidat, Atomoxetin und Lisdexamfetamin allein in Deutschland in den Jahren von 2004 - 2021 um mehr als das Doppelte, von 26 Mio DDD auf 57,7 Mio DDD. [3] Davon profitieren naturgemäß Pharmakonzerne, die ADHS spezifische Medikamente herstellen. Firmen wie Shire (Elvanse) oder Novartis (Ritalin) finanzieren Studien, die die Wirksamkeit ihrer Medikamente belegen sollen.

2.     ADHS ist nicht so einfach zu diagnostizieren. Das geht auch nicht durch einen Schnelltest im Internet. Es gibt nicht das eine ADHS. Es ist ein Störungsbild, das in verschiedenen Ausprägungen und Ausprägungsgraden existiert. Von daher könnte es zu einer Fehlerquote kommen. ADHS kann bisher nicht zuverlässig an Hand körperlicher Marker festgestellt werden.

3.     Es gibt viele Menschen, die ADHS-Symptome zeigen – aber hinter den Symptomen kann auch etwas anderes liegen. Bewegungsmangel, falsche Ernährung, hoher Medienkonsum, schlechter Schlaf, Depressionen, Drogengebrauch, das alles kann in seinen Auswirkungen einem ADHS ähnlich sein.

 

Was kann dem entgegengehalten werden? Wieso stimmt der Vorwurf meiner Meinung nach nicht, ADHS sei eine Modediagnose?



Wieso die Diagnosen und die Verschreibung von Medikamenten so zugenommen haben


Bis 2011 wurden Stimulanzien nur bis zum 18. Geburtstag verschrieben, obwohl schon lange klar war, dass ADHS sich in der Regel nicht einfach auswächst. Erst im April 2011 wurde mit Medikinet adult ein erstes Präparat zugelassen [4]. Im Mai 2014 kam mit Ritalin Adult ein zweites verschreibungspflichtiges Medikament hinzu. Damit erweiterte sich die mögliche Zielgruppe.

ADHS ist in der Gesellschaft angekommen.

Vor allem durch Schulungen von Ärzten und Psychologen, aber auch durch eine ausführliche Berichterstattung in den Medien kommt die Diagnose ADHS in den Blick. Immer öfter wird bei einer Störung nach einem ADHS-Hintergrund gefragt. Grundlage vieler Erschöpfungsdepressionen sind unzureichende Copingstrategien, Sucht wird immer mehr als mögliche Begleiterkrankung von ADHS gesehen.

In den sozialen Medien outen sich immer mehr Betroffene, erklären Hintergründe und geben Tipps im Umgang mit ADHS [5]. Das heißt, ADHS wird öfter als früher in Erwägung gezogen – und damit getestet. Allein 2015 gab es weltweit etwa 3.000 Publikationen über ADHS. [6]

Hinzu kommt, dass viele Menschen unter dem bisherigen Testungsradar geflogen sind – nämlich der vornehmlich unaufmerksame Typ. Er fällt weniger mit Hyperaktivität der Umwelt (und sich selbst) auf. Die Diagnose von Mädchen und Frauen mit „ADS“ ist daher in den letzten Jahren stark angestiegen, nicht wegen Fehldiagnosen, sondern weil sie überhaupt diagnostiziert wurden. Im Erwachsenenalter gleicht sich der Prozentsatz zwischen Männern und Frauen mit ADHS an.

Nicht nur bei Nichtbetroffen können die veränderten Umweltbedingungen ADHS ähnliche Symptome hervorrufen. Sie können die Erscheinungsformen einer zugrunde liegenden ADHS auch verstärken Damit fallen Menschen mit einem eher schwächer ausgeprägten ADHS vermehrt auf. Sie hätten in früheren Jahrzehnten noch besser kompensieren können. (Achtung: ADHS hat eine Vererblichkeitsrate von knapp 80% [7], dazu kommen vorgeburtliche Faktoren wie z.B. Rauchen in der Schwangerschaft. ADHS wird nur selten in Kindheit und Jugend neu erworben!).

Die weltweite Häufigkeit von kindlichem und erwachsenem ADHS wird weltweit mit etwa 3-5% angegeben. [8] Das Robert Koch-Institut geht in Deutschland von 5% aus. [9] Das ist erheblich mehr als die tatsächlichen Diagnosen, die gestellt werden.

Ungenaue Diagnostik?

ADHS-Diagnostik ist heute zuverlässiger als noch vor einigen Jahrzehnten. Es gibt viel mehr wissenschaftliche Studien als früher. Die Diagnostik ist umfangreich. Selbsttests im Internet können höchstens eine Richtung vorgeben.

In der Regel werden bei einer soliden Diagnostik verschiedene Tests gemacht. Laut Richtlinien müssen Symptome bereits vor dem 12. Lebensjahr aufgetreten sein. Deswegen werden, wenn möglich, Grundschulzeugnisse einbezogen. Bezugspersonen und Fragesteller füllen umfangreiche Fragebögen aus. Ein Intelligenztest ist ebenfalls dabei. Ziel ist, ADHS von anderen Diagnosen abzugrenzen. Damit sollen Fehldiagnosen minimiert werden.


 Der Kreis der Personen, die diagnostizieren, ist eingeschränkt. Erste Anlaufstelle ist der Hausarzt oder die Hausärztin, ansonsten kann man bei Kindern das nächste Sozialpädiatrische Zentrum aufsuchen.  Erwachsene können sich unter anderem an Unikliniken mit ADHS Ambulanz wenden.

 

Ansonsten kommen in Frage:

·       Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

·       Facharzt für Neurologie

·       Facharzt für psychosomatische Medizin

·       Ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten

·       Weithin unbekannt ist, dass auch Heilpraktiker*innen für Psychotherapie diagnostizieren dürfen.

Lehrer*innen dürfen nicht diagnostizieren, ADHS-Coaches oder -Trainer*innen ebenfalls nicht. Eine Zulassung durch das staatliche Gesundheitsamt ist unbedingt erforderlich.

 

ADHS ist also nicht überdiagnostiziert. ADHS ist vielmehr unterdiagnostiziert, bei Mädchen und Frauen sogar eklatant.


[1] Immer wieder kursiert das Gerücht, dass der amerikanische Psychologe Leon Eisenberg auf dem Sterbebett zugegeben habe, ADHS sei eine Erfindung der Pharmaindustrie. Z.B. https://meinungsverbrechen.de/kinderpsychiater-adhs-gibt-es-nicht/, abgerufen am 14.6.24.Interessant ist eine ausführliche Entgegnung: https://hyperaktiv.rocks/faktencheck-artikel-wie-unsere-kinder-zerstoert-und-zu-drogenabhaengigen-gemacht-werden/, abgerufen am 14.6.24.[2] https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/psychologe-peter-schneider-adhs-ist-auch-ein-konstruiertes-problem-der-schule, abgerufen am 14.6.24.

[5] Nur ein Beispiel, dafür ein prominentes: Eckart von Hirschhausen outete sich in einer WDR Doku als Betroffener. https://www.youtube.com/watch?v=MHjZ-4z8do8, abgerufen am 14.6.24

[7] Faraone et al., 2005; IMpACT Mol Psychiat 2012

[8] Polanczyk et al. AmJP 2007; Fayyad et al. BrJP 2007, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17541055/, abgerufen am 14.6.24.


Foto: Wix Jens Krohmer 05/ 24

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